1.
Bei manchen Menschen, so heißt es, sei das Sterben wie nach Hause kommen. Clara zum Beispiel hatte ein kleines Leben gelebt, ein bescheidenes und trotzdem ein schönes. Oft hatte sie an den Tod gedacht, vom Tod gesprochen und manchmal, jedoch niemals ernsthaft, hatte sie sich gewünscht, tot zu sein. Wenn sie daran dachte, war es eher der Tod der Eltern als der eigene oder der der Schwester, denn auch sie mochte wohl umgekommen sein, jedoch nie der von Pavel, denn sie hatte sich verboten, an Pavel zu denken. Ja, sie hatte es sich verboten, und sie war ein wenig stolz auf sich, denn fast hätte sie es geschafft. Sie hatte sich geschworen, sie würde ihn nie vergessen, nur dürfe sie nie an ihn denken oder von ihm träumen oder sich sein Gesicht vorstellen. Beinahe zweiundsechzig Jahre hatte sie es geschafft, mit ihren Gedanken geschickt und trotzdem liebevoll um ihn herumzuschleichen, bis drei Tage vor ihrem Tod.
Sie war, wie an jedem Donnerstag, nach draußen gegangen, ein wenig durch die Straßen spaziert, mit der Straßenbahn in die Innenstadt gefahren. Mit ihrem Seniorenticket hätte sie überall in der Stadt hinfahren können, sie fuhr aber immer nur mit der Einser bis zum Stephansplatz, spazierte ein wenig, meistens bis zur Hofburg, um dort den jüdischen Friedhof zu besuchen. Auf dem Rückweg kaufte sie in den Nebenstraßen in kleinen Geschäften das nötigste ein, sah sich noch ein paar Auslagen an und fuhr dann, später als sonst, gegen Nachmittag mit der Einser wieder nach Favoriten, wo das alte Haus stand, in dem sie seit über dreißig Jahren wohnte. Dort wärmte sie den Kaffee vom Morgen auf, aß ein Stück Kuchen, das sie aus der Stadt mitgebracht hatte, um gegen Abend das Fernsehen einzuschalten und nach ein bis zwei Stunden müde und einsam zu Bett zu gehen.
Der Briefträger war wahrscheinlich noch nicht da gewesen, als Clara aus dem Haus ging, denn ihr Briefkasten war leer. Der junge Mann, der neben ihr wohnte, hatte immer noch Besuch, denn der kleine rote Wagen stand immer noch da, wo er am Abend schon gestanden hatte. Niemand außer ihm und seinen Gästen, die meist weiblich waren, brachte es fertig in den Hof zu fahren, um dort zu parken, denn die Hausverwaltung hatte mit einer Anzeige gedroht. Na ja, er war sowieso einer von den jungen Leuten, die machten, was sie wollten, ein Student oder so etwas, reiche Eltern würde er wohl haben, aber die kümmerten sich nicht mehr um ihn. Haufenweise Besuch pflegt er zu bekommen, meist Mädel, die blieben dann eine Nacht oder zwei, die armen Dinger, dann kam die nächste und die nächste. Nie hatte ihn mal eine länger als ein oder zwei Wochen besucht, er scheint sehr wählerisch zu sein. Einmal, so erinnerte sie sich, ist ihr eine begegnet, die nur in ein Leintuch gewickelt die Treppen hinuntergelaufen kam, mit leisem Schluchzen und Tränen in den Augen. Sie aber grüßte nur nett, und ging weiter, als wäre nichts geschehen. Wer war sie denn, sich in alles einzumischen, wie die Hausmeisterin.
Ein andermal stand eine, sehr knapp bekleidet, beinahe einen ganzen Tag vor seiner Tür und wartete. Wann der Herr Nestroy wiederkomme, fragte das Mädel höflich und lehnte es ab, in Claras kleiner Wohnung auf ihren Hoffierer zu warten. Die armen Dinger machen schon so einiges mit, dachte sie, das hätte es früher nicht gegeben, dabei war er, der Herr Nestroy, doch eigentlich so ein netter junger Mann. Ein paar Male schon hatte er ihr die Einkaufstüten hinaufgetragen, und letzten Winter, als sie so krank war, hatte er sogar für sie eingekauft. Wird halt auch auf die Richtige warten, der Arme, na ja, möglicherweise war sie bisher noch nicht dabei.
Auch als sie wiederkam, war der Briefkasten leer, was sie nicht verwunderte, denn wer sollte ihr schon schreiben. Seit Jahren hatte sie schon keine Briefe mehr bekommen, die letzte, die ihr schrieb, ihre Cousine aus Prag, war letzten Herbst gestorben. Und da, auf einmal brach sie ihren Schwur und dachte: „Pavel, wenn du noch lebst, dann schreib mir doch, damit ich weiß, wo ich dich finde!“ So albern und kindisch ihr dieser Wunsch auf einmal vorkam, so lange und tief muß sie ihn wohl gehegt haben, denn sonst wäre er wohl nie, wenn auch nur innerlich, über ihre Lippen gehuscht. Eigentlich wollte sie den Herrn Nestroy fragen, ob vielleicht etwas gewesen sei, das rote Auto war weg, aber als sie vor seiner Türe stand und klopfen wollte, hörte sie Gelächter, ihr schien von einem Mädel, vielleicht noch in Ekstase, sie verstand nichts davon, sie horchte nur. Sie stand auf dem langen schmalen Gang im Halbdunkel. Eine Weile geschah nichts, dann faßte sie Mut. Sie trat näher an die kleine weiße Tür mit dem grauen Glasfenster, aus dem ein leichter Lichtschein auf sie fiel, doch als sie die Hand hob… da war es wieder. Es klang wie ein „Ja“ oder ein „Ach“, na ja, auf keinen Fall wie ein Schluchzen. Sie überlegte. Sie ärgerte sich ein bisschen über ihre Neugier, außerdem wollte sie den armen Herrn Nestroy nicht bei seiner schwierigen Suche stören, wer weiß, die wievielte das heute schon war. Sie hatte nie den Mut aufgebracht, wirklich indiskret zu sein, weswegen sie ein wenig unbefriedigt, aber keineswegs enttäuscht seiner Tür den Rücken kehrte, in ihrer kleinen Wohnung verschwand und von innen die Tür verriegelte, während ihr Nachbar zur Rechten gerade dabei war, sich ein Glas Wein zu holen.
Harald Nestroy, Diplomatenkind, was soll man sagen, verwöhnt von zwei englischen Kindermädchen und einer ungarischen Köchin, aufgewachsen in Prag, Rom, London und Adis Abeba, spricht fünf Sprachen, allesamt fließend, raucht billige Zigarillos und trinkt gern Wein, am liebsten französischen, weil man da die Erde nicht so schmeckt. Eines Tages hatte er es satt, die Welt immer nur durch Panzerglas und Spitzengardinen zu sehen, nabelte sich mit Achtzehn von seinem Vater und dessen heiler Welt ab, nahm sein Kabriolett und seine teuren Anzüge und sagte auf seine eigene Art „Auf Wiedersehen“. Nur kurz darauf folgte die Mutter seinem Beispiel. Trotz der mittelmäßigen Zensuren hat er Kunst studiert, na ja, eigentlich tut er es immer noch, nur arbeitet er schon lange für einen Verlag. Auch diese Tätigkeit, an die er ebenfalls nicht ganz ohne die Hilfe des Vaters gelangt ist, übt er nur halbherzig aus, seine wirkliche Leidenschaft sind Frauen. Vielleicht sagen wir lieber Mädchen, gemeint sind jene, die zwar schon Auto fahren dürfen, aber noch nicht ans Heiraten denken oder, was noch schlimmer wäre, an Kinder. Sie sollten nicht zu jung sein, einen Busen haben, der jedoch nicht zu groß sein darf, sie dürfen keine Falten haben und ihre Schenkel sollten nicht zu dick sein, mit anderen Worten, sie müssen im richtigen Alter sein und mit dem richtigen Aussehen ausgestattet, sonst ist es langweilig. Die Haarfarbe ist egal, das muß man schlicht ausprobieren. Er gabelt sie auf, wo man sich eben trifft, wo man eben so hingeht, als junger Mensch, damit andere junge Menschen mit einem reden, er zeigt ihnen die Parks, die Gärten, die Restaurants, schließlich zeigt er ihnen seine Wohnung, dort angekommen wird noch ein wenig getrunken, meist Wein, dann wird gevögelt, mal wild, mal leidenschaftlich, mal weniger, meistens bis in den Morgen. Er liebt sie überall, auf dem Tisch, auf dem Bett, auf dem Boden, in der Küche, im Bad, auf dem Balkon. Als neulich einmal eine, ihren Namen hatte er schon längst vergessen, Lust bekam, es im Park zu machen, suchten sie ein ruhiges Plätzchen, nur als sie ihm beteuerte, sie wolle unter freiem Himmel ihre Unschuld verlieren, begann er sich, zu winden, schließlich redete er es ihr aus, denn er kann kein Blut sehen. Er empfahl sie einem Freund, der vorgibt, so etwas zu mögen, sie könne sich ja danach mal wieder bei ihm melden. Einmal wollte eine auf einem Flachdach, über dem elften Stock, sie wollte eben hoch oben sein dabei, da das ganze über drei Stunden dauerte, holte er sich damals eine schlimme Erkältung. Die Namen der Mädchen merkt er sich nicht, genauso wie er nie bei ihnen schläft, er hat Angst vor betrogenen Nebenbuhlern, die am nächsten Morgen in der Türe stehen und Streit suchen. Niemand außer seiner Mutter kennt seine Telefonnummer, denn er haßt nichts mehr als Gejammere durch das Telefon. Harald Nestroy also, dieser entzückende junge Mann, stand in seiner Küche und hielt das kleine Päckchen in Händen, das der Briefträger heute Morgen für seine Nachbarin gebracht hatte. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Eine jener unglückseligen Familienkomödien, in denen immer das gesamte Studio zum Mitlachen verurteilt ist. Obwohl er von Natur aus nicht sehr neugierig war, hätte er schon Lust gehabt, einen winzigen Blick in das Päckchen zu werfen. Die Adresse der alten Frau war mit blauer Tinte von einer schönen Handschrift darauf geschrieben, liebevoll zugeklebt, mit schönen bunten israelischen Marken versehen und unzähligen Stempeln und weich fühlte es sich an. Das Mädel, das gerade gegangen war, könnte Sylvia oder Sonja geheißen haben, zumindest roch sie so, als würde sie Sylvia oder Sonja heißen. Sollte er sie je wiedersehen, mußte er ihr ein neues Parfum schenken, das war ja nicht auszuhalten. Entgegen seiner Gewohnheiten stand er in Unterhosen in der Küche und holte sich ein Glas Wein. Die letzten Tage waren gut gelaufen, er hatte sie bei Charly kennengelernt, seine Kneipe in der Josefstadt, wo er nach der Arbeit immer hin ging. Sie hatte ihn einige Minuten zappeln lassen, schließlich hatte sie ihn angelacht, und es war alles klar. Zwei, drei Manhattan hatte es ihn gekostet, ein Cocktail, der besonders effektiv zu wirken schien, da fing sie an, zu reden, erzählte ihm dies und das, alles in allem mäßig interessantes Zeug, als er erwähnte, daß er Kunst studiert, wollte sie ihm ihre Bilder zeigen, er lehnte ab. Sie war ein wenig beleidigt, dann wollte sie gehen, er folgte. Beim Spaziergang im Park reichten zwei, drei Gedichte, da nahm er am liebsten Heine. Sie wurde weich und der Rest war ein Kinderspiel. Schwieriger war es allerdings, sie sanft und ohne viel Gerede aus der Wohnung zu bekommen. Wie sehr verachtete er die Art Frauen, die, wenn alles vorbei war, das Vergnügen ausgeschöpft, immer noch jede Menge Konversation zu machen pflegten. Seine reichliche Lebenserfahrung, vor allem in diesen Dingen, sagte ihm, daß sich dahinter meistens Unsicherheit verbarg. Ausgerechnet dieses Wissen ließ ihn aber übermütig und oftmals zynisch werden, was die Mädchen meist zutiefst zu verletzen pflegte. Am meisten waren ihm Fragen zuwider, die sich um die Liebe rankten. Für diesen Fall hatte er sich, wie üblich, eine effektive Floskel zurechtgelegt. Seine Antwort lautete, ebenfalls wie üblich: „Ich liebe die Schönheit, ich liebe die Intelligenz.“ An dieser Stelle stockte seine Stimme ein wenig, denn was jetzt kam, war zwar hart, aber es verhalf ihm zu seiner kostbaren Freiheit und außerdem liebte er diese Zäsur. Er hielt also inne und im richtigen Moment sagte er: „Du hast von beidem nichts!“. Dabei war er sehr bemüht, seinen Gesichtszügen nicht den geringsten Ausdruck von Emotion zu gestatten, wenn man aber genau hinsah, spürte man den heimlichen Triumph und die kindliche Genugtuung, die ihn bei diesen seit Jahren gleichen Worten beschlich, aber wer sieht in so einem Augenblick schon genau hin? Es war schließlich kein sehr erhebender Moment für die armen Mädchen, aber für ihn die letzte Bastion seiner Unabhängigkeit. So langweilig das klingen mag, aber mit dieser Frage war er auch an diesem Morgen, der ein schöner zu werden versprach, konfrontiert worden. Ohne zu zögern hatte er sein Selbsterhaltungsprogramm abgespult, und Gaby oder Sylvia, oder wie auch immer, war ein wenig beleidigt. Er machte dann Kaffee, was sie ein wenig versöhnte und schließlich war sie bereit, ohne viel Trara und Aufsehen die Wohnung zu verlassen. Erleichterung. Nun stand er also vor dem Küchenschrank und schenkte sich Wein ein. Wieso eigentlich nicht? Zum Dicksein hatte er nie geneigt, und Durst, bekanntlich schlimmer als Heimweh, war nach solcher Anstrengung kein Wunder. Es war zu früh zum Trinken, aber was soll’s, es war auch zu früh zum Fernsehen. Sein Blick fiel wieder einmal auf das Päckchen. Kurz beschlich ihn der Gedanke, bei ihr zu klopfen und es ihr zu geben, aber er war in Unterhosen, und was sollte die Alte denken?
Nichts ahnend trank also unser sympathischer Mittdreißiger in seinem hart umkämpften Wohnzimmer, vor seinem ältlichen Fernseher sitzend, seinen wohlverdienten Bordeaux, während sich seine Nachbarin, Clara, nach einem anstrengenden Fernsehabend, müde, ihrer ebenso wohl, wenn auch nicht so schwer, verdienten Nachtruhe zuwandte, nicht ahnend, daß nebenan etwas Wunderbares und Schönes auf sie wartete. Claras Vermögen, nach zwei völlig verunglückten Talkshows und einer mittelmäßigen Fernsehserie, ruhig und gelassen einzuschlafen, war verblüffend. Sie war eben bescheiden, und vom Leben selbst erwartete sie am allerwenigsten, daß es womöglich auch noch unterhaltend sein könnte. Das einzig Fatale war, daß ihre Aufstehzeiten sich auf beinahe poetische Weise von denen ihres Nachbarn unterschieden, denn entweder war er mit seinem Liebesleben und seiner Zukunft beschäftigt, wobei sie ihn äußerst ungern störte, oder er schlief den wohlverdienten Schlaf derer, die ihre Freizeit mit gierigen, unersättlichen Weibern verbringen. Die Tage, an denen sie zeitig aufstand und hoffte, früh morgens ihm oder einem seiner Opfer zu begegnen, verliefen meist äußerst unspektakulär, denn nichts geschah. War sie allerdings damit beschäftigt, Einkäufe zu erledigen oder den Friedhof zu besuchen, oder auf ihre Weise nicht an Pavel zu denken, kam sie heim und jedes Mal beschlich sie das Gefühl, etwas verpaßt zu haben. Deswegen ging sie in letzter Zeit so selten aus. Nur an ihrem letzten Tag war ihr wieder danach. Sie stand zeitig auf, was sonntags nicht ihre Art war, fuhr mit der Einser weiter als sonst, bis zum Praterstern.
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit fuhr sie dort ganz früh, als einziger Gast, mit dem Riesenrad. Zum ersten und zum letzten Mal saß sie in majestätischer Höhe über der Stadt, die in den letzten fünfzig Jahren ihre ganze Welt gewesen war, blickte befreit darauf herab und verabschiedete sich, ohne es zu wissen. Länger und ausgiebiger war auch ihr Spaziergang durch die Stadt, der wie so oft gegen Mittag in ihrer kleinen Wohnung endete. Der Herr Nestroy war schon wieder aus dem Haus, sie hatte bei ihm geklopft, doch er öffnete nicht. Er kam erst gegen Abend wieder, diesmal alleine, denn er kam aus der Redaktion. Beim Öffnen der Post bekam er das Päckchen wieder in die Hände, drehte es ein paar mal herum, ging aus der Tür und klopfte vorsichtig an die Tür der alten Frau. Das Licht war aus und niemand öffnete ihm, denn Clara war eingeschlafen. An diesem Sonntagnachmittag, der so anders als sonst begann, war Clara eingeschlafen, ein letztes Mal, und leise glitt sie aus dem Leben. Kein Schmerz, kein Leid, sie machte nur die Augen zu, weil sie sich müde fühlte, und kurz darauf war sie tot. Harald Nestroy stand respektvoll vor ihrer Tür, das Päckchen in der Hand. Drei Tage hatte es nun bei ihm auf dem Küchentisch gelegen, nun wollte er es ihr endlich geben. Sein Klopfen wurde nicht beantwortet, also zog er sich in seine Wohnung zurück und ging schlafen.
2.
Drei Tage lang geschah nichts, er ging ab und zu wieder auf den Gang, mit dem Päckchen in der Hand und klopfte. Niemand machte ihm auf. Er hatte viel zu tun und keine Zeit, sich Gedanken zu machen über sie oder andere. Der Katalog mußte fertig werden und er arbeitete hart. Tag und Nacht saß er in seinem Arbeitszimmer über Büchern und Fotografien, machte sich Notizen, rauchte viel und trank viel von dem guten Wein. Er war schon müde, aber mußte noch viel tun, brütete über etwas besonders Schönem, als es an seiner Tür klopfte. Die verdammte Alte, dachte er, was will sie jetzt, ich hab keine Zeit, ich muß arbeiten. Seit drei Tagen steh ich ständig vor ihrer Tür mit ihrem Scheißpäckchen und ausgerechnet jetzt will sie was von mir. Genervt stand er auf, um ein freundliches Gesicht bemüht, öffnete er die Tür. Davor stand die Hausmeisterin, entsetzt, sie zitterte.
„Frau Nadgy, ich arbeite, ich bitte Sie, was ist denn um diese Uhrzeit so wichtig?“
„Sie Herr Nestroy, kommen’s, schnell, die arme Frau Grün, die arme“ stammelte die Hausmeisterin und schon hatte sie seinen Ärmel in der Hand und zog. Lammfromm folgte er ihrem Drängen. „Was ist denn mit der Frau Grün, der armen?“ „Na, tot is, Jesses Maria und Josef, tot.“ Die Hausmeisterin zerrte Harald Nestroy in die Wohnung nebenan. Auf ihrem Bett lag Clara, in einem weißen Nachthemd, mit geschlossenen Augen und ihre Hände lagen neben ihrem Körper. Einige Tage mußte sie schon hier gelegen haben, denn der Geruch war unangenehm. „Wissens, ich misch mich sonst nirgends ein, nur weil am Dienstag der erste war und sie ihre Miete nicht gezahlt hat und da hab ich mir halt Sorgen gemacht.“ „Is ja gut!“ „Und da hab ich überlegt, hol ich ihm Herr Nestroy, gehn’s, weil sie kennen’s sich sicher aus mit solche Sachen, hab ich überlegt.“ „Ja, ist ja gut!“ wiederholte Harald und irgendwie tat es ihm leid, daß er die Hausmeisterin angeschnauzt hatte. „Soll’n mir die Polizei rufen, gehn’s, sein’s so gut und machen sie das, ich bin nicht so versiert mit solche Sachen.“ „Keine Polizei, lediglich die Retter oder einen Arzt. Gibt es einen Arzt im Haus?“ „An Doktor? Ja, der Piroschan ist doch Doktor, soll ich ihm rufen gehn?“ „Frau Nadgy, der Piroschan ist Physiker, der versteht nix von Toten.“ Er nahm den Hörer ab und wählte.
„Grüß Gott, Nestroy, sagen’s, wir brauchen einen Doktor, ja, Herter Allee 91, erster Hinterhof, rechts, erster Stock. Grün. Nein, kein Unfall, die Frau ist tot.“ Gemeinsam wartete man auf das Eintreffen des Arztes, Fragen über Fragen, keine Verwandten, keine Bekannten, niemand, der sich hätte kümmern können. Clara wurde abtransportiert, in einem jener Bleisärge, wie im Kino und die Hausmeisterin verschloß die Tür der alten Dame. Nachdem sie sich dreimal bekreuzigt hatte, ging sie in ihre Wohnung und schlief nach einer Weile vor dem Fernseher ein. Harald Nestroy saß noch lange alleine vor seinen Büchern und Fotos, ohne sie wirklich anzusehen. Die alte Frau, die er kaum kannte, ging ihm plötzlich durch den Kopf. War er immer freundlich gewesen? War immer alles richtig, was er tat? Hatte er sie je gestört oder in eine peinliche Situation gebracht? Irgendwie ging sie ihn zwar nichts an, aber er wollte innerlich seinen Frieden mit ihr schließen.
Weitere drei Tage vergingen, bis ihm erneut das Päckchen in die Hände fiel. Er hatte es auf den Telefonschrank gelegt, und einige Zeitungen waren darübergeraten. Sein Katalog war fertig, und er hatte wieder ein wenig Zeit für sein Hobby. Diesmal ging er ins Maxim, er war verabredet. Helene war eine tolle Frau. Wenn es eine gab, die ihn kannte, dann sie. Sie wußte alles, seine Frauengeschichten, seine Enttäuschungen, einfach alles. Ab und zu schlief er mit Helene, weil eben auch sie eine Frau war. Helene selbst war höchstens verknallt in ihn, denn lieben konnte man einen wie ihn nicht. Wenn sie je Kinder haben wollte, dann von ihm, aber das durfte sie ihm nicht sagen, sonst käme er auf dumme Gedanken und würde gar nicht mehr mit ihr schlafen, was auch keine Lösung war. Helene war überzeugt, daß Harald sie liebte, es nur nicht wisse, weswegen sie auch niemals aufgab. Für ihn war sie die einzige Frau, der er noch am nächsten Morgen ohne weiteres in die Augen sehen konnte, weil sie zu keinem Zeitpunkt vor, während oder nach dem Geschlechtsakt etwas Forderndes hatte. Eine Frau, leicht zu ertragen, und heute war er mit ihr zum Essen verabredet. Vorher öffnete er noch eine Flasche Wein, damit dieser, wenn der Abend doch wieder wie üblich enden würde, das richtige Aroma entfaltet hätte. Beim Verlassen der Wohnung bemerkte er das Paket, hielt es kurz in der Hand, überlegte, sah auf die Uhr. Er mußte gehen, das Päckchen ließ er zurück. Wie vermutet, kehrte man auch nach diesem Restaurantbesuch bei ihm ein, und man brachte akzeptable Stimmung mit. Die üblichen Spielchen, Tür aufhalten, aus dem Mantel helfen, da bemerkte Helene das Päckchen und die leichte Unordnung, die es auf dem sonst leeren Vorzimmerschrank verursachte.
„Oh, Post von einer Anderen?“ Sie kokettierte gern mit ihrem Unwissen um sein Liebesleben. „Harry, Harry, wen hast du jetzt schon wieder so unglücklich gemacht, daß sie dir Briefe schreibt?“ Da sein Verlangen eben eindeutig war, nahm er das Päckchen wieder an sich. Er legte es an seinen Platz, den es erst seit ein paar Tagen hatte, wo es aber gut zu liegen schien, denn immer wieder stach es ihm ins Auge.
Als sie nicht aufhörte, zu kokettieren, als sie nicht locker ließ, erzählte er ihr gelangweilt die ganze Geschichte, nahm es ihr erneut weg und drängte stark in Richtung Küche, um es später, zum Schlafzimmer, nicht mehr weit zu haben, denn mit Helene liebte er sich immer im Bett. „Jetzt warte doch mal!“ Schrie sie affektiert und schnappte sich das Päckchen. Sie nahm es mit in die Küche und ihre Art ärgerte ihn schon wieder so, daß er fast keine Lust mehr hatte. Es war eben immer das gleiche mit ihr, erst reizte sie ihn mit ihren Blicken, wenn er dann weich war, wurde sie um so härter, wenn sie endlich nackt war ließ sie sich ewig bitten, um so schöner war es dann aber, und um so länger dauerte das ganze. Also, was soll‘s, da mußt du durch!
„Wollen wir es aufmachen?“ „Die Alte ist tot, ich stöber’ doch nicht in der Post von Toten.“ Seine Antworten waren immer so spießig, aber das machte sie neugierig. „Ich mach es auf, O.K.?“ „Nein, Helene, bitte! Laß uns…“ „O.K. dann mach du‘s auf!“ lächelnd warf sie ihm das Päckchen zu. Mit steifer Mine fing er es auf und legte es auf den Küchentisch. Er dachte nur noch an ihre kleinen runden Brüste mit den großen dunklen Warzen. „Willst du was trinken?“ „Hast du Bier?“ „Nein, einen Wein kann ich dir…“ „Dann eben Wein!“ Während er zwei Gläser mit Wein eingoß, öffnete sie die Tischschublade und nahm ein kleines Messer heraus. Sie griff sich das Paket und schwenkte es hin und her. Wie ein Kind spielte sie damit, außerdem spielte sie mit seiner Geduld. „Darf ich?“ Er griff danach, sie zog es weg, er hielt inne. „Helene, bitte, laß uns jetzt ficken!“ „Ich will erst wissen, was in diesem Paket ist!“ Er sah sie eine Weile an, ihr Blick war so sanft, daß er ihr nicht böse sein konnte. Das machte ihn wütend. Er riß das Päckchen an sich und öffnete es schnell und hastig. Teilnahmslos leerte er den Inhalt auf dem Küchentisch aus. Ein Brief war gleich zu erkennen, die Perlenkette mußte sie erst aus dem weichen grauen Papier auswickeln.
„Sieh mal! Ist die nicht schön?“ Sie hielt die Perlenkette hoch und drehte sich damit wie ein Kind. Als sie fast schwindelig war, legte sie sie weg und widmete sich dem Brief. Ein langer fein geschriebener Brief in gut leserlicher Schrift, dunkelblaue Tinte auf gräulichem Papier. Liebevoll entzog er ihr das kostbare Dokument, näherte sich ihr zärtlich, sie fügte sich. Die Nacht war lang und wild, wie immer mit Helene, und ohne ihn zu bitten, durfte sie bleiben. Er war früh wieder auf, ging in die Küche, kochte Kaffee, alles machte er ganz leise, um sie nicht zu wecken. Aus Langeweile griff er nach dem Brief, der immer noch auf dem Küchentisch lag und begann darin zu blättern. Sieben Seiten, dicht vollgeschrieben von einer starken Hand, „Dein Pavel“ die gut lesbare Unterschrift, ein Mann also. Er hielt kurz inne. Sieh an, die alte Grün hatte ja doch einmal was mit einem Mann gehabt, dachte er und schämte sich kurz dafür. Die Sache fing an, ihn zu interessieren.
„Liebe Clara, verzeih!“ Was nur mußte vorgefallen sein, um einen Brief mit diesen Worten zu beginnen? Er las weiter. „Es ist lange her, daß wir uns trafen, ebenso lange, glaube mir, habe ich nach Dir gesucht.“ Immer mehr zog der Brief ihn in sich hinein und bald las er wie ein Besessener. Er flog über die Zeilen, über die Seiten über die Worte. Was sich ihm offenbarte, war das Drama einer unerfüllten Liebe, eines Lebens zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Verzweiflung und Zuversicht. Eine Liebesgeschichte, die vor sechzig Jahren begann und zwar an dem dafür am wenigsten geeigneten Ort, in einem Konzentrationslager in Polen. Clara Grün, die früher einmal anders geheißen haben muß, ist wohl mit ihren Eltern aus Deutschland nach Warschau geflohen, wo man sich vor den Nationalsozialisten in Sicherheit wähnte. Mitgenommen wurde nur das nötigste, Haus und Hof blieben zurück. Als auch Polen besetzt wurde, reichte die Zeit nicht aus, um eine erneute Flucht zu planen. Die Eltern wurden, zusammen mit der Schwester, in eines der Lager nach Deutschland verschleppt, Clara, der es gelang, ein paar Habseligkeiten, darunter auch die Perlenkette ihrer Mutter zu verstecken, wurde drei Tage später ebenfalls festgenommen und in Polen in ein Lager gesteckt. Sie war damals dreizehn. An diesem ungastlichen Ort muß sie wohl Pavel Eismann, den Verfasser dieser Zeilen, kennengelernt haben, einen polnischen Juden, der aber einwandfrei deutsch sprach und der ihre Zöpfe bewunderte. Er war schon länger im Lager und sah dementsprechend aus, was ihn als Mann jedoch nicht entstellte. Er war älter als sie, doch von diesem Vorteil bemerkte man nicht mehr viel. Seine Augen haben ihr gleich am Anfang gefallen, so mußte das junge Ding wohl viel zu oft beteuert haben, offensichtlich überzeugend, denn Pavel sprach immer wieder davon. Sie trafen sich heimlich, auch lange nachdem ihre Zöpfe abgeschnitten wurden und persönlicher Kontakt verboten war. So fürchteten beide bald nicht mehr um sich selbst, sie fürchteten nur noch um ihre Liebe. Das half ihnen, zu überleben.
„In einer schönen Herbstnacht habe ich Dir die Unschuld genommen, wir waren ausgebüchst und mußten zurück sein, bevor die Wachhabenden erneut durchzählten. Wir hatten eine halbe Stunde. Wir trafen uns an dem Zaun hinter den Latrinen, der einzig sichere Ort, denn es stank so sehr, daß nur ungern einer der SS-Leut hier Streife lief. Den Gestank habe ich vergessen, jedoch nicht den süßen Duft Deiner Haut. Als Zeichen unserer Liebe verrietst Du mir ein Geheimnis, ein Baum in einem Park in Warschau, ganz oben, ich weiß es noch wie heute, ein Astloch, das von unten nicht zu sehen war, darin eine Perlenkette, hinter Moos versteckt. Ich hielt es erst für einen Scherz, für ein süßes Märchen, doch wollte ich daran glauben. Wie Du siehst, war ich da, gleich nach dem Krieg, ich dachte, wenn ich sie nehme und Du noch lebst, kommst du eines Tages auch hierher und weißt, daß ich nicht tot bin, obwohl, ich es mir manchmal gewünscht habe. Als sie mich fort brachten, in ein anderes Lager, in eine andere Stadt, weg von Dir und deinem warmen Mund, wollte ich vor allem eines, tot sein. „
3.
Ihr weiteres Leben verbrachten Clara und Pavel dann damit, aufeinander zu warten, einander zu vermissen und Clara vor allem damit, nicht an Pavel zu denken. Wie gerne hätte sie ihm noch einmal gesagt, wie sehr sie seine braunen Augen liebte, seine schwarzen Brauen, die dick und dicht über den tiefen Höhlen in seinem schmalen schönen Gesicht hingen. Wie gerne hätte sie ihn gefunden, um mit ihm zu leben, auf einem kleinen Kibbuz in Israel, vielleicht am Meer, jeden Tag an Olivenbäumen vorbeigehend, Hand in Hand. Nur durfte sie nicht einmal daran denken, denn woher sollte sie wissen, daß er noch lebte. Sein Name tauchte zwar in keiner Totenliste auf, nur konnte sie ihn auch in keiner der zahlreichen Suchanzeigen lesen, die nach dem Krieg von Juden aufgegeben wurden, welche versuchten, ihre Familien und Freunde wiederzufinden. Sie hatte ihn nie vergessen, nur hatte sie nie gewagt, sich zu wünschen, ihn jemals wiederzusehen, denn sie dachte, wenn er noch lebe, irgendwo auf der Welt, dann würde dieser Wunsch ihn töten. Ja, so sind Frauen manchmal, besonders wenn sie lieben.
Pavel aber lebte. Wie durch ein Wunder hatte er das Lager überstanden, nach der Befreiung hatte er dann zwei Jahre in einem russischen Militärhospital gelegen und eine Lungenentzündung kuriert. Als er wieder arbeiten konnte, suchte er Clara, überall wo er sie vermutete, er fuhr nach München, wo sie ursprünglich herkam. Erst nach Jahren gab er die Suche auf, nahm all sein Geld und ging nach Israel, um so weit wie irgend möglich von dem Land dort entfernt zu sein, von dem Land, in dessen Schoß die Nazibestie gediehen war, dem Land, das seine Liebe aufgefressen hatte. Er gründete sich eine Existenz, die immer auch für zwei gereicht hätte und er träumte davon, daß eins Tages Clara vor seiner Tür stehen würde. Dann hätte er sagen können „Willkommen zu Hause, tritt ein, ich habe alles vorbereitet, für unser Glück.“ Doch nichts dergleichen geschah. Clara lebte in Wien vor sich hin, immer zufrieden und zu bescheiden, um auch nur einen Menschen mit ihrem Schicksal zu belästigen. So unauffällig sie lebte, so unbedeutend starb sie schließlich auch.
Als es Zeit war, suchte Pavel sich eine Grabstätte außerhalb der Stadtmauer, auf einem kleinen Hügel, die er kaufte, schließlich will man wissen, wo man einmal zu liegen kommt. Er kaufte die auf dem Hügel, die zwar teurer waren, aber so konnte man näher bei Gott sein. Als das Geld reichte, kaufte er auch die Grabstätte daneben, für Clara, denn er wollte einfach glauben, daß sie eines Tages doch noch kommen würde. Als er ein grauer Mann war und die Suche schon fast aufgegeben hatte, erzählte ihm einer aus seinem Kibbuz über einen Mann in Wien, der schon vielen vor ihm geholfen hatte. Der Mann, der am Ende kein Geld wollte, fand heraus, daß Clara ihren Namen geändert hatte, daß sie jetzt Grün hieß, unverheiratet war und in Favoriten wohnte.
„Liebe Clara, wenn du mich auf Deine alten Tage immer noch liebst, so wie einst, dann komm zu mir, ich warte auf Dich, schon mein ganzes Leben. Als Zeichen unserer Liebe schicke ich Dir Deine Kette, die mir viele Jahre lang die Kraft zum leben schenkte und die Du nun jeden Tag tragen sollst, bis Du endlich bei mir bist.“
Pavels Liebe ging noch weiter, er kaufte eine Flugkarte, einfacher Flug Wien – Tel Aviv, erste Klasse, hinterlegte sie am Schalter der El Al am Wiener Flughafen.
Als Helene in die Küche kam, saß Harald über dem Brief. Er saß tief betroffen, das Zigarillo war aus, der Kaffee kalt, und ihr schien, als rollte da eine kleine Träne seine Backe herunter. Sie küßte ihn. Kalt ertrug er die Zärtlichkeiten, wortlos sah er sie an.
„Was ist?“ Harald schwieg. Sie nahm den Brief und las. Nach einer Weile: „Verstehe!“
„Was geschieht eigentlich mit Toten, die niemanden haben, keine Familie, keine Kinder?“ fragte er, ohne sie anzusehen. „Weiß nicht. Werden verbrannt.“ Leise legte sie den Brief auf den Küchentisch und setzte sich. „Und die Asche?“ „Was weiß ich, sie bringen sie auf den Armenfriedhof oder…“ „Aber sie war Jüdin.“ „Und Du bist sicher, daß sie niemnden hat?“ Sehr wohl war Helene die Veränderung an ihm aufgefallen, doch sie wußte nicht, damit umzugehen, eigentlich beunruhigte sie sie. Harald nahm den Telefonhörer und wählte. „Ja, Nestroy. Bittschön, gem’s mir die Pathologie – Ich warte.“
Harald Nestroy, das verwöhnte Diplomatenkind, von dem normalerweise noch nichtmal ein Fünckchen Respekt, geschweige denn Mitgefühl zu erwarten war, hatte das Krankenhaus angerufen und sich für ihren Neffen ausgegeben, er wolle sich um die Überführung kümmern, seine Tante habe da einen speziellen Wunsch. Da das Interesse an anonymen Toten nicht sehr groß ist, war es ein leichtes, die Pfleger von seiner Identität zu überzeugen, sein abgelaufener Diplomatenpaß tat sein übriges. „Ihre Tante wird gerade verbrannt, setzen Sie sich in den nächsten Tagen mit dem Krematorium in Verbindung, Sie können dort ihre Urne abholen, damit können Sie dann machen, was Sie wollen.“
Ein grüner Abholschein und das Bißchen, was eine Urne kostet, mehr ist nicht übrig von einem Menschenleben. Was für eine Welt, dachte Harald. Nachdem er seinen Paß hatte erneuern lassen, ging er zum Flughafen, mit dem gelben Abholschein für das Flugticket, dem Ausweis der alten Dame und der Urne in einer großen blauen Sporttasche. Der Israelische Zoll war ein Kinderspiel und so stand er, mit der menschlichen Schmuggelware im Gepäck, in Tel Aviv auf dem Flughafen. In dem Bus, der ihn ans Rote Meer bringen sollte, las er erneut den Brief und versuchte sich krampfhaft das Gesicht von Pavel vorzustellen. Die Wegbeschreibung war so liebevoll und präzise, daß er keine Mühe hatte, den Weg von der Haltestelle zu dem kleinen Kibbuz an der Küste zu finden, in dem Pavel, so wie er annahm, auf seine Clara wartete. Auf sein Klopfen öffnete ihm ein alter Mann, gebeugt, fast kahl und trotzdem lächelte er. Harald hielt den Brief hoch.
„Sind sie Pavel Eismann?“ fragte Harald höflich aber bestimmt, nur der kleine alte Mann schien ihn nicht zu verstehen. Er bemühte sein Englisch, nach einigen Sätzen schüttelte der alte Mann den Kopf. Nach einer Weile Unsicherheit folgte etwas, das Harald als Einladung deutete, also trat er ein. Kurz darauf machte man sich auf den Weg, in der größten Mittagshitze führte der seltsame Greis, der nicht gerne zu sprechen schien, Harald auf einen Berg. Der Weg war mühsam, Haralds Kleidung zu warm und der langsame Schritt des Greisen ermüdend. Nach einer halben Stunde hielt der alte Mann an ein paar Grabhügeln. Vom Berg aus war die Stadt zu sehen, die kleinen geraden Häuser und das Meer. Auf dem Berg drei Gräber, eines davon frisch. Auf der schlichten Marmorplatte war der Name zu lesen. „Pavel Eismann“ Die Grabstelle daneben war frei.
„Und wenn Du dann zu mir kommst, wenn die Zeit uns zusammenführt, werde ich Dir die Welt zeigen, von hier aus, von meinem Hügel. Wir werden uns in den Armen liegen und die Augen schließen, bis die Sonne untergeht.“ Harald legte den Brief beiseite und eine kleine Träne tropfte von seiner Backe auf den staubigen Boden. Der kleine alte Mann war schon längst wieder gegangen, man sah nur noch seine Silhouette am Rande der Stadt verschwinden. Harald Nestroy weinte. Mit einem Stein und seinen bloßen Händen grub er ein kleines Loch in den sandigen Boden und legte, liebevoll wie eine Mutter ihr Kind, die Urne der alten Dame hinein. Sorgfältig verschloß er das Loch wieder, verharrte einen Augenblick und dachte dann: „Wer auch immer deise Frau gewesen sein mag, sie hat ein kleines Leben gelebt, ein bescheidenes, aber ein schönes.“ Und tief drinnen wünschte er sich, ein einziges Mal in seinem Leben so geliebt zu werden, wie diese Frau den Mann liebte, neben dem sie nun begraben lag.
© 1996 by Juergen Arne Klein