Bombenstimmung!

by | 24. Mai 2015 | Gesellschaft, Netz | Kein Kommentar

„Wenn man in ein Flugzeug steigt, sollte man auf jeden Fall immer eine Bombe bei sich tragen. Die Wahrscheinlichkeit, dass EINE Bombe an Bord ist, ist schon sehr gering, die Wahrscheinlichkeit, dass ZWEI Bomben an Bord sind, ist hingegen sehr viel geringer.“

Dieses Zitat von [Laurie Anderson] – man mag mich gerne korrigieren – für das ich auch leider keinerlei Beweis in dem von mir einsehbaren Teil des Internets finde – wurde in Zeiten meiner späten Jugend immer gern kolportiert, wenn es darum ging, Statistiken, soziologische Erkenntnisse oder absurde Einschnitte in Privatsphäre und persönliche Freiheit infrage zu stellen oder zu karikieren. Und ich habe es gern benutzt, um meine Sicht auf bestimmte Aspekte des Themas „Empirische Bewiskraft willkürlicher Behauptungen“ zu illustrieren. Ich liebte daran stets die absurde Ironie, die in der Aussage steckt und die beim – hoffentlich genaueren Nachdenken – dazu führt, dass man sich dem einen oder anderen Thema vielleicht objektiv oder wenigstens von einem anderen Standpunkt aus zu nähern bereit ist. Aber das hier geht zu weit.

Da droht also jemand, bei einer öffentlichen Veranstaltung, mit deren Inhalt oder Aussage er oder sie nicht einverstanden ist, eine Bombe zu zünden. Das ist pervers.

Ich muss vielleicht noch erwähnen, dass ich heute einen – wie es so schön heißt – ziemlich gebrauchten Tag hatte. Obwohl ich keine besonderen Sympathien für einzelne Vereine der zweiten Fußball Bundesliga hege (FC Union Berlin vielleicht ausgenommen – aber für die ging es ja heute um nichts mehr) war ich dann doch im FC Magnet, um mir zumindest – vermeintlich neutral – mal anzuschauen, gegen wen mein HSV in die Relegation muss. Und da passierte es. Ein Mann, ich schätze mal, so Anfang-Mitte Sechzig fiel kurz nach Anpfiff der meisten Partien einfach um. Herzstillstand. Minute 2. Das ist kein Zynismus, das soll nur helfen, zu verstehen, was in mir vorging. So als Zeitachse des Geschehens. Ihr mögt mir verzeihen?

Ich hatte mich also schon latent auf ein Unentschieden zwischen Darmstadt und dem FC St. Pauli und einen Sieg des FC Kaiserslautern über den ohnehin schon aufgestiegenen FC Ingolstadt eingestellt und mein erstes Bier bestellt. Noch bevor ich richtig begriff, was in dem Durchgang, direkt vor meinen Augen, passiert war, hatten sich schon acht junge Männer um den Verunglückten geschart – darunter dankenswerter Weise zwei Ärzte – und damit begonnen, den Mann zu reanimieren. Als ich dann also begriff, was da wirklich vor sich ging, changierten in mir die unterschiedlichsten Reflexe. Erstmal wollte ich raus. Ich wollte einfach weg. Ich war ja gekommen, um einen – wenn auch noch so unwichtigen – Spieltag der zweiten Bundesliga zu sehen und nicht, um zu erleben, wie jemand vor meinem Augen stirbt. Minute drei – ungefähr. Aber dann wollte ich irgendwie helfen. Nur wie? Meine letzte Ersthelfer-Ausbildung ist ungefähr so alt wie mein Führerschein. Vermutlich war jeder andere in diesem Raum besser dazu geeignet, jemandem das Leben zu retten als ich. Ganz schön peinlich eigentlich. Ich wurde panisch.

Mein Blick hing also irgendwie an der Uhr über dem Spielgeschehen, und mein Hals zog sich immer weiter zu. Als der Mann in Minute fünf kurz wieder anfing, spontan zu atmen und auch Anstalten machte, zu sprechen, stellte sich erstmal Erleichterung ein, als jedoch die Ersthelfer kurz darauf wieder die Herzmassage aufnahmen machte sich wieder Angst in mir breit. Was, wenn sie es nicht schaffen würden, ihn bis zum Eintreffen der Notärzte ausreichend zu versorgen? Sollte ich doch einen der Herren ablösen? Wann kommt endlich die Feuerwehr und vor allem: Würde irgend jemand sowas jemals für mich tun? Unnötig zu erwähnen, dass das mittlerweile gefallene 1:0 für den KSC völlig unbeachtet blieb, es erschien lediglich als banale Randinformation unter der Uhr, die ich nervös beäugte.

In Minute elf traf dann endlich der Notarzt ein und ich fühlte mich, als würde sich schon das Ende der zweiten Halbzeit nähern. So langsam vergeht also die Zeit, wenn man um das Leben eines völlig unbekannten Menschen bangt. Aber sie kamen. Immerhin. Die Notärzte waren da. Nur die Angst war noch nicht weg. Und die Hoffnung, es möge noch nicht zu spät sein, ein Leben zu retten.

Um es abzukürzen: nach dem zweiten Defi-Schock setzte bei dem unbekannten Mann wieder der Puls ein und er wurde lebendig in einen Rettungswagen verladen. Mehr weiß ich von dem Mann nicht, ich kann nur hoffen, dass er den Herzschlag überlebt. Und auch den Rest des Spieltages habe ich nur wie durch einen dicken Schleier wahrgenommen, nur soviel: mein HSV muss sich nun wohl gegen den KSC behaupten.

Und meine Gedanken schweifen wieder zurück zu der ungeliebten Fernsehshow.

Seitdem ich Vater einer Tochter bin, bin ich Feminist. Das klingt vielleicht komisch, abgedroschen und wohlfeil, ich weiss, allein für mich ist mit dem Begriff eine Hoffnung verknüpft. Ich hoffe, dass mein Kind später einmal nich nur aufgrund ihres Geschlechts oder aufgrund geschlechtsspezifischer Klischees wahrgenommen wird, sondern dass sie als das gesehen wird, was sie ist: ein Mensch mit einer Identität, mit Ideen und Wünschen. Und deswegen machen mir Sendungen wie „Germanys Next Top Model“ Angst. Große Angst.

Wie soll ich meinem Kind eines Tages erklären, dass es falsch ist, wenn Menschen, wenn Frauen, einzig und allein aufgrund ihres Gewichts, ihres Aussehens oder ihrer Ausstrahlung verehrt oder verachtet werden, nur weil Heidi Klum mit ihrer Sendung dieses Missverständnis von oberflächlicher Schönheit so tief im Bewusstsein unserer Gesellschft verwurzelt hat, dass wir Eltern keine Chance mehr haben, dagegen anzukommen? Wie soll meine Tochter eines Tages verstehen, dass junge Mädchen sich schinden, sich quälen, ja ihr Leben aufs Spiel setzen, um dem zu entsprechen, was eine erbärmliche aber unbarmherzige Schönheitsindustrie als Standard definiert? Und wie kann ich verhindern, dass mein Kind da mitmacht?

Ich will nicht, dass meine Tochter, mein wunderbares, einzigartiges Kind, sich eines Tages dafür hasst, nicht wie ein Top-Model auszusehen oder sich quält, um den Ansprüchen einer völlig absurden Abziehbild-Gesellschaft zu entsprechen, ich will nicht, dass sie leidet, weil sie nicht so ist, wie die jungen Frauen, die für diese Show ausgewählt werden! Ich will, dass sie selbst definiert, wer sie ist und was sie ist und was wichtig ist in ihrem Leben – und was Schönheit ist.

Aber deswegen Heidi Klum in die Luft jagen? Auf gar keinen Fall!

Ich will hier gar keine großen Worte darüber verlieren, wie armselig man sein muss, um anonym eine Fernseh-Show, ein Fussball-Spiel oder ein Kultur-Event mit einer Bomben-Drohung zu behindern, ich will auch gar nicht darauf hinaus, was im vorliegenden Fall alles hätte passiern können – obwohl keine Bombe gefunden wurde – ich will vielmehr darauf hinaus, dass unsere Kinder differnzieren lernen müssen. Es geht um Medienkompetenz.

Eine Show wie „Germany’s Next Top Model“ lässt sich mit aufklärerischen Mitteln wahrscheinlich nicht verhindern, mit Bombendrohungen sowieso nicht. Die Fähigkeit das absurde Frauenbild, das darin transportiert wird, von dem zu unterscheiden, was das Leben zum Glück ausmacht, müssen wir unseren Kindern vermitteln. Vielleicht erledigt sich damit dann auch die erbärmliche Vorstellung, man würde mit Gewalt diese Welt besser machen.

Und ich mache demnächst einen Ersthelfer-Kurs.

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