Den Fluss hinauf

by | 18. Jan 2002 | Stories

Text zum Katalog der Weissenhoferausstellung „Quatro Stazioni“ von Juergen Arne Klein

Seit drei Wochen sind wir jetzt auf der Flucht. Wir haben schon unter so vielen Brücken geschlafen und auf so vielen Bahnhöfen gewartet, daß ich schon gar nicht mehr weiß, wovor wir uns eigentlich verstecken. Es hatte, glaub‘ ich, damit angefangen, daß wir alle ein bißchen freier sein wollten, ein bißchen weniger Teil des falschen Systems. Was auch immer das heißt. Einigen von uns hatte es nicht mehr gereicht, zu reden, zu protestieren, in überfüllten Hörsälen herumzusitzen und Worte und Sätze und Parolen zu schmettern, die sowieso nichts änderten. Jetzt saßen wir auf zugigen Bahnhöfen und sagten kein Wort. Die großen, die Hauptbahnhöfe wurden regelmäßig nach uns abgesucht, stündlich tauchten zwei Streifen und ungezählte in Zivil dort auf und kontrollierten die Pässe. Wir sind auf die kleinen Bahnhöfe ausgewichen. Es gibt 3685 dieser mittleren und kleinen Bahnhöfe im Westen, um alle auf einmal zu überwachen fehlt ihnen das Geld. Wir reisen zu dritt. Fünf werden gesucht, drei fallen weniger auf.

Wenn wir an einem Ort sind, der als sicher gilt, reist einer alleine zurück und holt die anderen. So ist keiner alleine, außer dem Kurier und der ist ständig in Bewegung. Und Waffen tragen wir alle.

Am besten geeignet sind abgelegenen Bahnhöfe, die eher am Rand von mittleren Kleinstädten liegen. Die arbeitende Bevölkerung steigt hier aus, grau und gesichtlos, schiebt den alten Leib zur Schicht. Vom Bahnsteig aus kann man die grauen Umrisse der Industriegebiete sehen, hinter deren fensterlosen Fassaden die unmündigen Massen ihren entmenschtlichten Beschäftigungen nachgehen. Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ausbeutung der Massen durch das Kapital. Vernichtung durch Arbeit. Auf der anderen Seite, auf dem Bahnhofsvorplatz stehen zwei bis drei Taxen. Die Fahrer sind ausgestiegen und unterhalten sich in ihrer Muttersprache, rauchen eine Zigarette. Der jüngere trägt nicht selten einen Schnauzbart und hält seinem älteren Kollegen die Thermoskanne hin. Der Tee oder der Kaffee dampft im fahlen Morgenlicht und man unterhält sich weiter. Ein paar Meter die Straße hinauf öffnet gerade der Kiosk. Die ersten Kunden kaufen einen Jägermeister und ein Päckchen West oder Chantré und eine Bild. Die Luft riecht nach den undefinierbaren Abgasen der Fabriken und nach frischem Brot aus einer großen Brotfabrik. Ich esse einen Schokoriegel, an dem ich mich die letzten Stunden festgehalten habe.

Auf dem Boden vor dem Kiosk liegt ein Mensch. Neben ihm balgen sich zwei junge Hunde. Eine Stufe höher, auf den Lehnen der alten Holzbänke sitzen zwei weitere Gestalten. Der größere, er mag nicht älter als 20 sein, sieht mit seinem Bart aus wie 50. In seinem schmalen, eingefallenen Gesicht hat er mehrere Wunden. Die meisten Zähen fehlen. Wenn er sein Gesicht zu einem gequälten Lachen verzieht klafft eine schwarze Lücke zwischen Nase und Kinn. Hin und wieder nimmt er einen Schluck aus der Weinflasche.

Zehn Minuten nach dem der Kiosk geöffnet hat, hält ein Streifenwagen auf dem kleinen Parkplatz hinter der Bushaltebucht. Die beiden jungen Beamten steigen aus und setzten ihre Mützen auf. Der Blick von Hans trifft mich kurz.

Die Leute, die mit den Vorortzügen ankommen und sich im fünf – Minuten – Takt auf die grauen Bahnsteige ergießen, teilen sich am Ausgang unter den Gleisen. Die einen tragen ihre müden Leiber in eine der Fabriken auf der anderen Seite der Schienen, die anderen schleppen sich vor den Kiosk. Eine merkwürdige Wahl. Die beiden Seiten des spätkapitalistischen Systems getrennt durch einen viergleisige Bahnstrecke. Ich frage mich auf welcher Seite wir stehen.

Die Bullen beginnen ihren Kontrollgang mit einer gewissen Routine bei den drei Gestalten auf der Parkbank. Die üblichen Schikanen. Als der Junge auf dem Boden sich weigert aus seinem Schlafsack zu kriechen treten sie ihm zwei, drei mal in die Nieren. Er steht auf. Das Gespräch ist schnell zu Ende, es scheint sich um alte Bekannte zu handeln. Der ältere Bulle kauft Bild. Aus der sich träge schließenden Türe des Warteraumes erklingt heiser mein Vorname.

Ich kann nicht sagen, wer mich zuletzt bei meinem richtigen Namen gerufen hatte. Unter uns benutzten wir Decknamen, Kampfnamen, Nomes Du Guerre. Auch weil sich darin ein wenig die Lächerlichkeit unseres Unterfangens verliert. Seit dem wir angefangen hatten, vor vier Jahren, sind fünf Menschen gestorben, drei von uns, und zwei von denen. Keiner älter als 28. Auf der großen runden Bahnhofsuhr sind es noch drei Minuten.

Die Bullen sind bei den Taxifahrern angelangt. Kleines Schwätzchen, alles Ruhig. Der ältere Taxifahrer bietet Zigaretten an. Die Beamten lehnen ab. Sie sind nun näher an uns heran gekommen, ich kann sie fast hören, genau so wie die abgehackten Funkrufe der Taxizentrale. Einer der Bullen dreht den Kopf und sieht für kurze Zeit in unsere Richtung. Meine rechte Hand gleitet langsam in die Manteltasche. Mein Daumen sucht nach dem Hahn der Heckler & Koch 9 mm. Ich spanne. Die Gesichter der anderen sind gelassen. Hans raucht. Meine Hand ist eiskalt. Zwischen uns und denen liegen achtzig, vielleicht neunzig Meter und Gleis eins. Ich überlege, ob wir auffallen. Wir tragen lange graue Mäntel aus billigem Filz, wie fast alle, die hier auf den Schnellzug warten, doch wir haben als einzige große Taschen, viel Gepäck, zu viel. Der kleinere der beiden Bullen sieht wieder eine Weile zu uns rüber. Ein wenig zu lang denke ich gerade, als seine Blickrichtung von dem durchfahrenden Bus für einen Augenblick verstellt ist. Meine Hand ist nun fest um den Griff der 9 mm geschlungen. Ich denke an Weihnachten

„Bitte Vorsicht an Gleis zwei!“ Selbst die Stimme der Bahnhofsvorsteherin klingt heiser. Lustlos. Wir steigen in den Zug, der kurz darauf langsam zu rollen beginnt. Nach einigen Minuten kommen zwei Schaffner und ich kaufen eine Karte. Nach dem der Zug die ersten male gehalten hat trete ich kurz auf den Gang. Hans raucht. Außer uns ist keiner zu sehen. Nach einer Stunde leert sich der Zug und ich setzte mich zu den anderen.

Einer von uns muss wach bleiben, die anderen schlafen schlecht. Nach mehreren Stunden hat sich mein Griff gelockert, doch den Mantel behalte ich an. Aus den halb geöffneten Augen kann ich sehen, daß die Landschaft, die wir nun in Richtung der untergehenden Sonne durchfahren immer flacher wird. „Bald, “ denke ich „sind wir am Fluss.“ Ich bin dran mit schlafen.

Auf dem kleinen Bahnhof kurz vor der Grenze, wartet die Vorhut. Rolf, der Belgier, von dem keiner weiß wie er wirklich heißt, trägt seinen Mantel offen. Beide Hände in den Hosentaschen sind das Signal zum weiterfahren. Als er uns bemerkt zieht er sie langsam heraus und verschränkt sie vor der Brust. Die Luft ist rein. Zu Fuß erreichen wir kurz vor zwölf den Frachter, der uns über die Grenze bringt. Der Kapitän und seine Frau, „sie sind sauber, sie sind Genossen“ sagt einer aus der Gruppe gönnerhaft, haben uns im Rumpf des Schiffes, zwischen drittem und viertem Lagerraum in einem Container ein paar Matratzen hingelegt. Nachdem wir die Grenze passiert haben gibt es Kuchen und etwas Kaffee. Wir dürfen auf Deck. Ich sitze lange an der weiß gestrichenen Reling und sehe in die untergehende Sonne. Meine Beine hängen wenige Zentimeter über der schäumenden Bugwelle. Langsam schiebt sich das Schiff mit leisem Stöhnen der Dieselmotoren gegen die Strömung des trüben Wassers den Fluss hinauf.

Als ich aufwache ist es schon dunkel und der Mond hängt fahl über den Bäumen am linken Ufer. Ich trage immer noch den dünnen Filzmantel und ich greife reflexartig in meine rechte Tasche. Ich hatte geträumt. Den Zettel mit den Abfahrtszeiten, der in der gleichen Manteltasche steckte wie die 9 mm werfe ich in das schwarzen Wasser des nächtlichen Flusses. Da fällt es mir wieder ein: Den Fluss hinauf heißt auch: gegen den Strom. Das ganze Leben gegen den Strom. Seit meinem 24. Geburtstag immer auf der Flucht. Nie länger als drei bis vier Tage am selben Ort. Aber ein echter Held hat kein Heimweh. Ché hatte auch kein Heimweh, höchstens nach Gerechtigkeit.

Und wenn Du dann nach Hause kommst, nach all den Jahren, nachdem Gras über die Sache gewachsen ist oder auch nicht, dann bist Du ein Fremder im eigenen Land. Ein merkwürdiges Gefühl.

Das ist die Tragik der Emigration.

Juergen Arne Klein, 18.01.2002

 

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